Berührung

Heute schreibe ich über ein belangloses Wort, dass zur seltenen-exklusiven Worthülse im Sprachgebrauch und zur (oftmals) leeren Geste im Alltag verkommen ist: Berührung! Im Folgenden wird Berührung zweifach mitgedacht: Einmal die leibliche Berührung und einmal als innere Berührtheit.

Berührung ist mehr als Sex und Trost spenden

Wer an Berührung denkt, landet in unserer Kultur sehr schnell beim Thema körperliche Liebe. Zärtliche Berührungen sind noch klarer auf zwischenmenschliche Partnerschaftsaktivitäten fokussiert. Eine zärtliche Beziehung zu einem nahe stehenden Menschen, von Frau zu Frau, von Mann zu Mann, da gehen die Schubladen sofort auf, die Gedankennetze werden ausgeworfen.

In unserer Kultur wird Berührung schnell mit körperlicher Liebe verbunden. Zärtliche Berührungen sind stark auf Partnerschaften fixiert. Eine zärtliche Beziehung zu einem nahe stehenden Menschen, egal ob Frau zu Frau oder Mann zu Mann, löst Irritationen aus. Nur in Notsituationen, wo Trost gespendet wird, tolerieren wir diese Berührungen noch.

Die Umarmung wird zur leeren Geste

Selbst die gut gemeinte Umarmung zur Begrüßung verkommt mehr und mehr zu hohlen Formel, ohne wirkliche Berührung, ohne Verbundenheit, ohne wirkliche Berührung. Dort fehlt jede Achtsamkeit, jedes sich Zeitnehmen, jedes hineinspüren, wahrnehmen, sich einlassen. Von sich in die Augen schauen, das eine Tiefe des Miteinanders ermöglicht, ganz zu schweigen. Die Augen schweigen oftmals, wenn sie sich noch wirklich begegnen – und nicht nur die Bestätigung im anderen suchen.

Digitale Berührung im Trend

Doch es gibt eine Ausnahme in unsere Berührungsarmut, eine Berührung, welche in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Touchscreen, Berührungsbildschirme. Die Zeit mit Smartphone und Tablet, die in der wir liebevoll und fast zärtlich über diese magische Oberfläche streicheln, wo Tippen in der Hoffnung von sogenannter sozialer Interaktion (hat er/sie geantwortet, für wen bin ich wichtig, wer interessiert sich für mich) passiert.

Unsere Berührungen zu Maschinen nehmen zu, die zu Menschen schwinden. Wir leiden unter der fehlenden Berührung. Wer Studien und Bücher dazu sucht, findet diese schnell in Suchmaschinen und im Buchladen.

Wissenschaftlicher Ruf nach mehr leiblicher Berührung

Sheldon Cohen von der Robert E. Doherty University untersuchte, ob Umarmungen gestresste Menschen davor schützen, krank zu werden. Das Resultat: Größere soziale Verbindung und häufigere Umarmungen schützen Menschen vor der mit Stress verbundenen erhöhten Anfälligkeit für Infektionen und führten zu weniger schweren Krankheitssymptomen.

“Wir wissen, dass Menschen, die unter ständigen Konflikten mit anderen leiden, weniger in der Lage sind, Erkältungsviren abzuwehren. Wir wissen auch, dass Menschen, die angeben, soziale Unterstützung zu haben, teilweise vor den Auswirkungen von Stress auf psychologische Zustände wie Depressionen und Angstzustände geschützt sind”, so Cohen.

Ergebnisse zeigen, dass Umarmungen für ein Drittel der schützenden Wirkung der sozialen Unterstützung verantwortlich waren. Bei den infizierten Teilnehmern führten sowohl eine größere wahrgenommene soziale Unterstützung als auch häufigere Umarmungen zu weniger schweren Krankheitssymptomen.

“Dies deutet darauf hin, dass die Umarmung durch eine vertraute Person ein wirksames Mittel sein kann, um Unterstützung zu vermitteln, und dass die Erhöhung der Häufigkeit von Umarmungen ein wirksames Mittel sein könnte, um die schädlichen Auswirkungen von Stress zu verringern”, sagte Cohen. “Der offensichtliche Schutzeffekt von Umarmungen könnte auf den körperlichen Kontakt selbst zurückzuführen sein oder darauf, dass Umarmungen ein Verhaltensindikator für Unterstützung und Intimität sind.”

Cohen fügte hinzu:

“Auf jeden Fall sind diejenigen, die mehr Umarmungen erhalten, etwas besser vor Infektionen geschützt.”

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Weitere spannende Erkenntnisse über leibliche Berührungen

Innere Berührheit nimmt ab

Neben der leiblichen Berührung zieht sich, langsam und fast unmerklich, auch die innere Berührung zurück. Die innerliche Berührung bedeutet, sich von etwas im geistigen, seelischen, im wesenhaften Sinne berühren zu lassen.

Wir werden abgestumpfter. Wenn Kinder die Schule verlassen, haben sie bereits tausende Morde und Tote in den Medien gesehen. Sie sind abgehärtet für das Leben, wie unsere Kultur es für sie vorgesehen hat.

Phubbing nimmt zu

Gleichzeitig nehmen die Anzahl der Impulse massiv zu, welchen wir heute über die allzeitige Erreichbarkeit, Verfügbarkeit, über Werbung an jeder Ecke usw. ausgesetzt sind. Der Takt der Informationsverarbeitung steigt und entwickelt sich manchmal zur Sucht nach neuen Impulsen. Phubbing genannt.

Unsere Aufmerksamkeitsspanne nimmt ab, laut Wyzowl aus dem Jahr 2015 auf 8 Sekunden (ein Goldfisch hat 9 Sekunden!). Wir nehmen uns weniger Zeit, uns innerlich berühren zu lassen. Es fehlt die Zeit des Nachspürens und des Nachklangs.

Selbst wenn wir innerlich eine Berührung wahrnehmen, kommt sofort ein neuer Impuls, der die innere Berührung verdrängt. Er geht in der Flut des Alltags unter, sang- und klanglos, resonanzlos. Ruhe und Stille stören im Rausch des Verbundenseins mit der digitalen Welt.

Pathalogie der Normalität

Statt dessen jagen wir neuen äußeren Impulsen nach. Wie eine Sucht nach neuen Triggern, neuen Bestätigungen unserer Existenz im außen. Erich Fromm nennt dies „Pathologie der Normalität“, Erich Wulff „Normopathie“.

In diesem Sinne fehlt die Zeit des Nachklangs, des Nach-Spürens. Selbst wenn ich eine innerliche Berührung wahrnehme, kommt schnell ein neuer Impuls, dass ich diesem nicht nachgehen. Er geht in der Flut des Alltags unter, sang- und klanglos. Wir leiden an zu viel Input, zu viel Information; ständig in latenter Angst etwas zu verpassen (Stichwort: FOMO, Fear of missing out).

Konsum ist wichtiger als Berührtheit

Darüber hinaus leben wir in einer Kultur, in der es wichtiger ist, ein Ereignis zu konsumieren, statt sich von ihm berühren zu lassen. Wir besuchen zum Beispiel ein Museum, um da gewesen zu sein, um ein Bild vor der Mona Lisa mit uns zu machen. Doch wir nehmen die Mona Lisa nicht mehr wahr. Ein Event, Konzert mit dem Smartphone aufzunehmen ist wichtiger als das Ereignis selbst. Wir behindern uns selbst und merken es kaum.

Die Verfestigung der informationellen Berührungsmauern

In den letzten Jahren nahm die Fähigkeit in Kommunikation mit Menschen zu treten, die eine andere Meinung als „man“ selbst hat, ab. Das Leben in der eigenen Blase wird mehr und mehr zur Hauptidentifikation und wird bis aufs letzte Hemd verteidigt. Die Fähigkeit, sich von Informationen berühren zu lassen, die das eigene Weltbild, die eigene Identität gefährden, nimmt rapide ab. In diesem Zuge findet kein Austausch auf Sachebene mehr statt, sondern eine Abwertung auf Beziehungsebene.

Vier Impulse für mehr Berührung

Falls dir Berührung leiblich wie innerlich im Leben fehlt, habe ich hier Impulse, wie du mehr Berührung zulassen kannst. Sie kosten kein Geld, du musst kein Buch kaufen, kein Seminar buchen. Trotzdem Scheitern die meisten Menschen im Alltag daran, diese Impuls zu manifestieren — und finden zahlreiche Ausreden, warum es bei ihnen nicht möglich ist.

  1. Impuls: Umarme länger
    Umarme einen Menschen eine Sekunde länger (oder zwei?), schau ihm danach bewusst in die Augen. Du musst nichts tun, nur schauen. Als positiver Nebeneffekt senken Umarmungen das Stressniveau und fördern deine Immunkraft (siehe Steven Cohen’s Studie).
  2. Impuls: Schweige
    Oder noch progressiver, schweige einfach in einem Gespräch. Spüre in dich hinein, was dieses äußere Stille in dir auslöst (oftmals ein innerer Sturm der Entrüstung). Setze dich mit einem guten Freund an einen stillen Ort, verabredet, dass ihr beide 10 Minuten schweigt und euch anschaut. Es wird alles verändern!
  3. Impuls: Pausen
    Mache mehr Pausen. Fördere innere Pausen, indem du zwischendrin deine gewohnte Tätigkeit unterbrichst. Setze dich aufrecht hin, lege dich hin und spüre deinen Atem oder zähle deinen Herzschlag.
  4. Impuls: Dialog
    Gehe bewusst in ein Gespräch über ein dir wichtiges Thema, ein Thema, dass dich innerlich berührt. Höre zu, höre zu 80 % zu und spreche selbst nur 20 %. Falls du im privaten und beruflichen Umfeld so einen Raum nicht hast, schaue dir das Sokratische Gespräche Online an.

Gerald Hüther hat noch mehr Impulse:

Gerald Hüther über innere Berührtheit

Mein Wunsch

Lass dich berühren! Dieser Blogbeitrag soll nicht nur zum Nachdenken anregen, sondern auch dazu, wieder mehr Berührung – körperlich und seelisch – in dein Leben zu integrieren. Lass dich berühren und genieße die Momente der Pause, der Achtsamkeit und des Miteinanders.

Foto von Claudio Schwarz auf Unsplash

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