Was ist die
Theory of Mind?
Es klingt wie eine Alltagsweisheit: Die ›Theory of Mind‹ beschäftigt sich mit der Fähigkeit, sich in anderen Menschen hineinversetzen zu können. Dieses Hineinversetzen bezieht sich auf deren Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Erfahrungen, Glaubenssätze und Wertevorstellungen (…).
Zielgruppe des Artikels
- Menschen, die mehr über den Begriff “Theory of mind” (Abkürzung ToM, Tom oder TOM) wissen wollen.
- Menschen, die unzufrieden mit ihrer Kommunikation sind, die sich andere Begegnungen, Beziehungen wünschen.
- Menschen, die konkrete Impulse suchen, um ihre Fähigkeit des Hineinversetzens zu verbessern.
Inhaltsverzeichnis
Diese Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen wird von Peter Fonagy und Mary Target mit Mentalisierung bezeichnet. Er versteht darunter die Fähigkeit, das eigene Verhalten oder das Verhalten anderer Menschen durch Zuschreibung mentaler Zustände zu interpretieren.
Das klassische Beispiel der ›Theory of Mind‹
Oft wird die Theory of Mind mit folgendem Beispiel eingeführt, es stammt von Heinz Wimmer und Josef Perner aus dem Jahre 1983:
Maxi isst eine Tafel Schokolade. Nachdem er die erste Schokoladenhälfte verspeist hat, legt er den Rest in die Küchenschublade und geht in den Garten spielen. Nun kommt Maxis Mutter in die Küche, öffnet die Küchenschublade, entdeckt die Schokolade und legt diese Schokolade in den Kühlschrank.
Wenn Maxi nun aus dem Garten zurückkommt, wo wird er nach der Schokolade suchen Er weiß nicht, dass seine Mutter die Schokolade zwischenzeitlich gefunden und in den Kühlschrank gelegt hat.
Die Antwort erscheint vielen als offensichtlich. Natürlich wird Maxi in der Schublade suchen. Kleinkinder (bis ca. 3 bis 4 Jahren) und Menschen mit autistischer Veranlagung antworten jedoch mit: “Im Kühlschrank”. Nach der Theorie of Mind, würden Wissenschaftler sagen: Sie haben keine ›Theory of Mind‹. Sie unterscheiden nicht zwischen den unterschiedlichen Perspektiven und Wissensständen.
War deine Antwort “In der Schublade”, so kannst du Dich in Maxi hineinversetzen und die Welt aus ihren Augen betrachten (was die Suche nach der Schokolade betrifft).
Theory of Mind im Video kurz erklärt
Ein Video, welches die Theory of Mind kurz erklärt (in englischer Sprache). Es liefert eine gute Definition und gleichzeitig hilfreiche Tipps für Eltern, wie sie die Theory of Mind bei der Begleitung ihrer Kinder nutzen können. Der Begriff wird oftmals sehr stark mit der Psychologie verbunden, dieses Video erklärt ihn jedoch für die Eltern-Kind-Beziehung und die kindliche Entwicklung.
Lügen „können“ als Voraussetzung
Wenn ein Kind zum ersten Mal bewusst lügt, ist dies ein wichtiger Schritt in seiner Entwicklung. Das Kind spricht etwas aus, von dem es weiß, dass es nicht wahr ist. Dieser kognitive Schritt wird meist negativ von den umgebenden Erwachsenen bewertet. “Du sollst nicht Lügen!”. Das Erwachsene täglich mehrfach lügen, wird wegrationalisiert oder als “Notlügen” assimiliert.
Um Lügen zu können, muss die Trennung zwischen richtig und falsch erfolgen können. Im Gehirn können mehrere Zustände der Wahrnehmung nebeneinander existieren. In diesem Sinne ist die Fähigkeit lügen zu können, eine Voraussetzung der ›Theory of Mind‹. Bei Kleinkinder setzt dies zwischen dem 3. und 4. Lebensjahr ein. Ausnahmen bestätigen die Regel!
Mehrere Zustände von einer Sache zu durchdenken, eine Sache aus mehreren Perspektiven betrachten zu können, kann zu Lügen führen oder zur Fähigkeit, sich in andere hineinzusetzen.
Was ist das Gegenteil der “Theory of Mind”?
Das Gegenteil der ›Theory of Mind‹ ist die Annahme, dass jeder Mensch so denkt und handelt, wie “man” selbst denkt und handelt. Kürzer gesagt: Alle Menschen sind so wie ich bin. Sie haben die gleichen Werte, Absichten, Glaubenssätze, Wertungen, Ziele, Überzeugungen …
Die Theory of Mind wird im Internet teilweise mit Kindern erläutert. Das Ziel ist, dass Kinder diese Fähigkeit des Hineinversetzen lernen sollen. Aber in der Praxis zeigt sich oftmals, dass viele Erwachsene diese Kompetenz nicht im Alltag einsetzen oder nutzen.
Obwohl dies für die meisten Menschen offensichtlich nicht wahr sein kann, erlebe ich in vielen Besprechungen und Workshops Menschen, die ihre Ansicht über die Welt und ihre Lösung für so klar und richtig erachten, dass sie andere Wahrnehmung von Beginn an als falsch ablehnen. “Unfug!”.
Sie zeigen in diesen Augenblicke nicht die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Sie mentalisieren nicht. Ihnen wird die Empathie abgesprochen (ganz oder teilweise). Allerdings ist hier Vorsicht geboten:
Wer die Gedanken nicht lesen kann, der kann keinem die Empathie absprechen!
Wichtige Fragen sind: Wie zeigt der andere Empathie? Welche Gründe gibt es, die Empathie nicht zu zeigen?
Die Annahme, dass alle anderen so sind, wie “man” selbst ist, klingt absurd – drückt sich aber in der Regel aus: “Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.”.
Hinter diesen Satz steckt jedoch (etwas versteckt) genau diese Grundannahme. Deshalb lohnt es sich, davon zu lösen und nach Alternativen zu suchen.
Bedeutung der Theory of Mind für die Zusammenarbeit
Es gibt Menschen, die glauben, dass die eigene Ansicht, die eigene Wahrnehmung über die Welt “richtig” ist. Manche gehen sogar noch einen Schritt weiter: Die eigene Wahrnehmung stellt die wirkliche Welt dar — und die einzig wirklich Welt! Erlebe ich in fast jeder Besprechung.
Tragisch ist oftmals, dass diese Menschen ihr Weltbild durch ihre Wahrnehmung tagtäglich bestätigen — bewusst oder unbewusst. Es wird bevorzugt wahrgenommen, was das eigene Weltbild bestätigt (Information), und es wird übersehen, was nicht ins eigene Weltbild passt (Exformation).
Dieses Denkmodell gibt es auch als Kollektiv und wird bei Gruppen als Gruppendenken bezeichnet. Wer gegen die Gruppenmeinung ist oder gegenteiliges ausspricht, wird mittelfristig ausgeschlossen und abgewertet. Gleichzeitig wird der ab-normale (jenseits der Gruppen-Norm) Akteur mit Rückzug (offen oder verdeckt) reagieren. Die Gruppenleistung sinkt , weil die Energie dieses Gruppenmitglieds reduziert oder gar nicht mehr zur Verfügung steht. Selbstverständlich lässt sich dies das Gruppenmitglied nicht anmerken, sondern spielt das offiziele Spiel weiter mit. Auf beiden Seiten fehlt das sich hineinversetzen, dass die Theory of Mind einfordert.
Tragisch dabei ist, dass es in Gruppen selten um die Durchsetzung der eigenen Wirklichkeit geht. Den meisten ist bewusst, dass es in Gruppen Diskurs, Kompromisse und Konflikte braucht, um gut zusammenzuarbeiten. Deshalb: Nein, es geht nicht um die Durchsetzung der eigenen Meinung, im Sinne von: “Nur ich habe recht!”. Sondern es geht um ein Gesehen, um ein Gehört werden, ein Ernst-genommen-werden. Um den Respekt vor dem Weltbild eines jeden Einzelnen. In diesem Sinne ist die Theory of Mind förderlich, weil sie ein “gesehen” sein ermöglicht und in die Kommunikation bringen kann.
Das gemeinsame Erkunden der jeweiligen Weltbildern, vorurteilsfrei, offen und neugierig, wirkt meist Wunder. Dafür braucht es Zeit, Respekt und wirkliches Interesse.
Räume, um die Theory of Mind zu erleben
Das Sokratische Gesprächs- und Dialogformat ist ein idealer Ort, um die Theory of Mind selbst zu erfahren und sich darin zu üben. Über das Format an sich erfährst du hier mehr.
Ich biete drei unterschiedliche Räume dieses wundervollen Gesprächsformates an.
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Kritik an der Theory of Mind
Die Grundannahme der Theory of Mind ist, dass es möglich ist, die Welt aus den Augen eines anderen zu betrachten. Dies ist natürlich bei dem Lieblingsbeispiel mit Maxi und der Schokolade möglich, weil es objektiv beobachtbare Tatsachen sind (wo ist die Schokolade).
Diese Theorie wird jedoch auch oft bei Sachverhalten angewandt, bei denen es nicht um objektive Tatsachen, sondern um Gefühle, Emotionen, Bedürfnisse, Überzeugungen, Glaubenssätze geht. Es wird mit Unterstellungen, Annahmen gearbeitet, die teilweise und oftmals nicht hinterfragt werden. In der Psychologie oder der Therapie wird daraus oftmals ein dogmatischer Lehrimpuls daraus. Jemand hat zu erkennen, was der andere meint. Dies ist jedoch spekulativ und realitätsfern. Minimal kann die Annahme formuliert werden, was ich selbst glaube, was der andere meinen könnte.
Die Fähigkeit sind in andere hineinversetzen zu können ist eine Illusion. Dies ist nicht möglich. Lediglich kann der Versuch unternommen werden, sich vorzustellen, wie es im anderen aussieht. Dies ist und bleibt jedoch immer ein Versuch. Schwierig wird es dann, wenn dieser Versuch als die Wahrheit über den Menschen betrachtet wird. Die Folge sind Du-Botschaften (“Du wolltest doch ..”), Schuldzuweisungen (“immer muss Du …”) und Abwertungen (“Du bist …).
Die Theory of Mind wird dann übergriffig, wenn sie dem Gegenüber die eigene Wahrheit absprich . Sie wird dann kritisch, wenn sie versucht zu erklären, dass es möglich ist, sich in den anderen hineinzuversetzen — dies ist nicht möglich. Es kann sich nur ein Bild davon gemacht werden, wie der andere Mensch dies betrachten könnte, wie er sich fühlen könnte.
Deshalb gilt es aus meiner Sicht vorsichtig mit der Theory of Mind umzugehen. Sie ist ein guter Diener, um das Zusammenleben besser zu gestalten und sich selbst besser zu hinterfragen. Sie ist ein schlechter Meister, wenn es um Wahrheiten über andere und deren Motive geht.
Meine Empfehlung für den Transfer der Theory of Mind
Unterscheide drei Ebene in deiner Realität:
- beoachten: Was sehe, höre, … ich (wie eine Videokamera)? Was fügst du gedanklich hinzu?
- erklären: Wie erkläre ich mir das beobachtete (der andere macht dies, weil …)?
- bewerten: Wie bewertet du deine Erklärung (positiv, neutral, negativ)?
Dann die berühmte gedankliche Pause einzulegen, bevor du den nächsten Schritt machst.
Erst jetzt, nach dieser Pause kommst du zur Aktion, zur Tat, du sagst etwas, schweigst, tust nichts,
Wenn du mehr über diese Vorgehensweise erfahren willst, empfehle ich dir diesen Artikel: Feedback geben und nehmen.
Beispiele, Übungen und Handlungsempfehlungen
Die Theory of Mind kann in der Praxis durch einfache und gezielte Übungen gefördert werden. Hier ein paar Beispiele, wie die Theory of Mind angewendet werden kann:
- Gehe bei einem Dialog davon aus, dass dein Gegenüber recht hat — egal was er sagt.
- Versuche wirklich zu verstehen, wie dein Gegenüber zu dieser Aussage kommt, was sind seine Annahmen.
- Sei dir bewusst, dass deine Aussagen für dein Gegenüber verstörend und irrational erscheinen können.
- Habe mehr Verständnis für andere Weltsichten, andere Wahrheiten.
- Werde dir deiner eigenen Gefühle, Emotionen, Überzeugungen, Absichten, Gedanken bewusst, bringe sie wertfrei in die Kommunikation.
- Bringe unterschiedliche Perspektiven transparent in die Kommunikation. Vermeide dabei Vor-Verurteilungen.
- Denke und spreche öfters: “Gehen wir davon aus, dass du recht hast, dann bedeutet das für unsere Fragen/Thema …”.
- Mache dir vor einem schwierigen Termin schriftliche Notizen, wie der andere die Welt konstruiert und warum dies so ist.
- Halte im Hinterkopf, dass die Wahrheit die Erfindung eines Lügners ist 😉 (Heinz von Förster)
- Lache öfters über dich und deine verrückten Wahrheiten, das befreit von Engstirnigkeit!
Zusammenfassung der Theory of Mind
Drei Schritte zur Anwendung der Theory of Mind:
- Die Wirklichkeit von jedem anzuerkennen, diese selbst näher kennenzulernen und gemeinsam zu erkunden ist der erste Schritt zur Mentalisierung.
- Seine eigene Wirklichkeit in der Schwebe halten, und sich dennoch dieser Wirklichkeit bewusst zu sein — der zweite Schritt.
- Dieses Wissen im weiteren Verlauf zu berücksichtigen, seine eigene Weltsicht hinten an zu stellen, der nächste Schritt.
Wenn dies gelingt, wird Respekt und Anerkennung gelebt. Die Wissenschaft beschreibt dies mit Theory of Mind, der gesunde Menschenverstand kennt dies seit tausenden von Jahren.
Basis für ein Miteinander ist ein Verständnis für- und miteinander. Das klingt so einfach, wird in der Praxis jedoch oft missachtet.
Leider wird die Theory of Mind bei uns oftmals als Defizitthema (z. B. Autismus, …) im Fachgebiet der Psychologie beschrieben, dass es psychologisch zu lösen gilt. Dafür gibt es Experimente, Tests und Lösungen. Ich bin der Meinung, dass die Grundannahmen der Theory of Mind für alle Menschen wichtig sind — und sie können das Zusammenleben und das Zusammenarbeiten erleichtern. Aber das ist nur meine Meinung … 😉
Weiterführende Quellen zur Theory of Mind
- Zusammenfassung Chris und Uta Frith, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982205009607
- Zusammenhang zwischen Teamerfolg und dem Erkennen von Gefühlen, Link zur Studienübersicht
- Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst / Peter Fonagy, György Gergely, Elliot L. Jurist und Mary Target ; aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl. https://d-nb.info/1143718445
- Wimmer, H., & Perner, J. (1983). Beliefs about beliefs: Representation and constraining function of wrong beliefs in young children’s understanding of deception. Cognition, 13(1), 103–128. https://doi.org/10.1016/0010-0277(83)90004-5 https://psycnet.apa.org/record/1983-27705-001
- Byom LJ, Mutlu B. Theory of mind: mechanisms, methods, and new directions. Front Hum Neurosci. 2013 Aug 8;7:413. doi: 10.3389/fnhum.2013.00413. PMID: 23964218; PMCID: PMC3737477. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3737477/
- Baron-Cohen S, Leslie AM, Frith U. Does the autistic child have a “theory of mind”? Cognition. 1985 Oct;21(1):37-46. doi: 10.1016/0010-0277(85)90022-8. PMID: 2934210. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/2934210/
- Ein Erklärvideo, welches den Defizitfokus deutlich macht: https://www.youtube.com/watch?v=gFE1GlNKoLI
Artikelbild von Photo by Fineas Gavre on Unsplash