Überall liegt heute die Notwendigkeit vor, zu ermahnen, ernst zu ermahnen, nach Gründlichkeit zu suchen, zu suchen danach, wie die Dinge zusammenhängen, zu suchen nach den Wirklichkeiten und nicht nach dem äußeren Schein. Was verschlägt es denn, wenn sich wirklich heute einmal ein Mensch das Geständnis macht: Nun ja, da liegen die Dinge vor. Ich verstehe es noch nicht; ich will daher noch nicht dreinreden.

Selbstwirksamkeit

Selbst-schein

Dinge zusammenhängen, nicht nach dem äußeren Schein

Wir leben in einer Marketing-Gesellschaft (siehe Erich Fromm), die Form wichtiger als der Inhalt, der Schein ist wichtiger als das Sein. Zusammenhänge werden beliebig konstruiert, herbeigezaubert und nach Lust und Laune wieder verworfen. 

Als Entschuldigung holen wir die Komplexität zur Hilfe. Alles ist so komplex geworden, so vernetzt und undurchschaubar. So machen wir uns oftmals nicht mehr die Mühe die Dinge zu ergründen, zu durchdringen, sondern folgen der erstbesten Erklärung — oder schauen einfach, was alle andere glauben und reihen in diese Schafherde ein.

Den Dingen eigenständig auf den Grund gehen, dafür nehmen wir uns keine Zeit. Ständig ruft das Smartphone, wer hat an mich gedacht, wo bekomme ich die nächste Bestätigung, den nächsten sozialen Schuss Anerkennung. Wir wollen Scheinen, das Sein macht uns Angst.

Ich verstehe es noch nicht

Unwissenheit gilt als Makel. In einer Gesellschaft, in der alles Wissen nur ein Klick entfernt ist, zeugt Unwissenheit von augenscheinlicher Dummheit. In der Schule lernen wir es: Lieber klug nachgeschwätzt, als Unwissenheit offenbart. Neben der Unwissenheit ist die eigene Denkleistung, das selbstständige Denken in der Schule hinderlich. Es stört den Ablauf.

Doch wähnt sich der Mensch sich erst mal als Wissender, dann gibt es keine Demut mehr. Diese Wahrheit wird posaunt, verbreitet, verteidigt, bis zur Selbstaufgabe. Rudolf Steiner dazu: “Die Menschen sind nicht geneigt, Wahrheiten entgegenzunehmen, sondern sie ernennen sich zum Besitzer der Wahrheit.”

Ich wünsche mir mehr Menschen, die sagen: Ich weiss es nicht. Ich verstehe es noch nicht. Wie siehst du es? Lass uns gemeinsam darüber nachdenken!

oberflächlichen Stand der allgemeinen Bildung

Wenn 1917 die Bildung schon oberflächlich war, was ist sie heute? Was bilden wir in der Schule? Das Denken? Nein, wir lernen das Abspeichern von fremden Inhalten. Den Charakter? Teilweise, doch in der förderlichen Form und Richtung? Das Wissen? Nein, nur das Auswendiglernen. Die Weisheit? Nein, davon sind wir in der Schule wirklich sehr weit entfernt.

Statt in der Schule den Menschen in seiner Einzigartigkeit zu fördern, ihn zu unterstützen, sich selbst zu bilden, seine Stärken zur Ent-Faltung zu bringen — passen wir die Menschen an die herrschende Gesellschaft an, ohne Rücksicht auf individuelle Verluste. Wir feiern den Durchschnitt, wir feiern die Oberflächlichkeit.

Grundlagen schaffen

Bernd Kolb treffend: “Wer sich in sich selbst täuscht, täuscht sich in allen Dingen.” Also wäre eine Kenntnis seiner Selbst wichtig. Doch nicht den Schein betreffend, welche Modemarke mag ich, welche sozialen Freunde brauche ich, um akzeptiert zu sein …

Nein, es bräuchte ein Wissen über sich selbst. Seine Gedanken-Gänge, seine Empfindungen, Gefühle und Emotionen. Seine Absichten, Haltungen und Motive. Von einem Eigen-Sinn oder ein Gefühl für den Lebens-Sinn ganz zu schweigen.

Wer erkennt, wie wenig er sich selbst kennt, wird in Demut auf die Welt blicken. Wer in die Welt schreit, kennt sich nicht. Sondern er fürchtet sich vor der inneren Leere — und simuliert das Pfeifen im Walde.

Dabei wäre der erste Schritt nicht so schwer. Anhalten, innehalten, in sich spüren, beobachten — nicht bewerten und sich Menschen suchen, Situationen suchen, die diesen Prozess unterstützen.

Quelle: Rudolf Steiner, GA 177, Erster Vortrag, 29.09.1917.

Schreibe einen Kommentar